Wie können Akteure aus der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Zivilgesellschaft und der Politik den Strukturwandel im Mitteldeutschen Revier nicht nur beobachten und begleiten, sondern aktiv mitgestalten im Sinne einer „transformativen Praxis“?
Dieser Fragestellung widmete sich die zweite Konferenz des Instituts für Strukturwandel und Nachhaltigkeit (HALIS), die vom 3. bis 5. April an der Universität Halle in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Wissenschaft, Energie, Klimaschutz und Umwelt des Landes Sachsen-Anhalt an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg stattfand. Drei Tage lang stand der Austausch von Ideen, Best Practices und Innovationen zwischen Wissenschaft und Praxis sowie das Zukunftspotential der Region im Fokus.
Bereits in ihrer Eröffnungsrede machte die Rektorin Prof. Dr. Claudia Becker deutlich, dass „transformative Praxis“ aus Sicht der Wissenschaft bedeutet, dass Transformationsprozesse nicht nur retrospektiv bewertet, sondern durch Inhalte und Arbeitsweisen aktiv mitgestaltet werden. Wissenschaft ist somit ein Teil von Transformation selbst und verfügt über bedeutende gesellschaftliche und politische Wirksamkeit. Dies wird durch die Politik wahrgenommen und gefördert, wie der stellvertretende Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt und Wissenschaftsminister Prof. Dr. Armin Willingmann in seinem Keynote-Vortrag betonte.
Um dies zu untermauern, überreichte er als Höhepunkt seiner Keynote der MLU einen Förderbescheid in Höhe von 21,5 Millionen Euro für die Gründung des „European Center for Just Transition Research and Impact-Driven Transfer (JTC)“. Durch Mittel des Just Transition Fund wird das JTC bis 2027 interdisziplinär zu relevanten Fragestellungen im Revier forschen – vom demographischen Wandel und Partizipation bis hin zu Kreislaufwirtschaft.
Foto: Heiko Rebsch
Dieser Meilenstein gleich zu Beginn der Konferenz wurde anschließend durch die Präsentationen weiterer erfolgreicher Forschungsgroßprojekte der mitteldeutschen Hochschulen wie das Centre for the Transformation of Chemistry (CTC) oder die Innovationsregion für digitale Transformation von Pflege und Gesundheitsversorgung (TPG) ergänzt und verdeutlichte, wie innovativ und vielfältig transformative Praxis in der Region aussehen kann.
Die Podiumsdiskussion zum Thema „Hochschulen im Strukturwandel und das Potenzial neuer Forschungszentren“ am Nachmittag des ersten Konferenztages machte zudem deutlich, dass die Universitäten des Mitteldeutschen und des Lausitzer Reviers in der Mitgestaltung des regionalen Strukturwandels eine zentrale Rolle einnehmen. Die Erwartung, dass sie Innovationen nicht nur fördern, sondern auch innerhalb kurzer Zeit anstoßen und koordinieren, können die Universitäten in Abhängigkeit von ihren jeweiligen Ressourcen unterschiedlich gut erfüllen. Auf dem Podium wurde daher die Forderung laut, dass der Bund diese unterschiedlichen Voraussetzungen in seiner Fördersystematik berücksichtigen müsse. Gleichzeitig sei es aber auch notwendig, dass die Universitäten selbst eine Transformation durchlaufen.
Der zweite Konferenztag begann nach einer Begrüßung durch die Prorektorin der MLU sowie den Rektor der Hochschule Merseburg mit einer Podiumsdiskussion zum Thema „Zukunftszentrum Deutsche Einheit und Europäische Transformation“, welches seinen Standort in der Stadt Halle bekommen wird. Thomas Wünsch, Staatssekretär im Wissenschaftsministerium des Landes Sachsen-Anhalt, und Michael Marten, Projektleiter des Zukunftszentrums im Bundeskanzleramt, diskutierten mögliche Aufgaben des Zukunftszentrum, die eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft herstellen sollen. Wichtig sei, die gelebte Transformationserfahrung der Zivilgesellschaft aufzunehmen, aufzubereiten und nach außen zu tragen.
„Gesamtgesellschaftliche Lösungen für die sogenannte Transformationsmüdigkeit finden“
Anschließend begann der nunmehr praxisorientierte Teil der Konferenz, der sich durch den Workshop-Charakter drei parallel stattfindender Innovationslabore auszeichnete. Die konzipierten Labore befassten sich mit relevanten Fragestellungen im Kontext des Strukturwandels in der Region. Ergebnisse des Diskussionsteils wurden in Form von Graphic Recording festgehalten. Die eingeladenen Referent:innen kamen nicht nur aus der Wissenschaft, sondern auch aus der Praxis und repräsentierten Institutionen und Organisationen, die sich im Rahmen ihrer Arbeit mit Transformationsprozessen auseinandersetzen oder von Strukturwandel konkret betroffen sind.
Im Innovationslabor zu „Just Transition: Partizipative Gestaltung und soziale Teilhabe“ wurde beispielsweise hervorgehoben, dass insbesondere im ländlichen Raum die Einbindung junger Menschen in politische Entscheidungen unzureichend gefördert wird. Vor dem Hintergrund, dass es aufgrund des demographischen Wandels künftig weitere Leerstellen geben wird, sei eine gezielte Beteiligung und Befähigung der Bevölkerung von großem politischem Interesse. Weiterhin wurden über die Potentiale für Innovation und Transformation aus der Forschung diskutiert sowie die regionalökonomische Bedeutung von Wissenschaft im Strukturwandel analysiert.
„Es braucht mehr Struktur im Wandel“
Nach der Mittagspause stiegen die Teilnehmer:innen in Busse, die sie zu den drei Stationen Bitterfeld-Wolfen, Zeitz und Landsberg bei Halle im Mitteldeutschen Revier brachten, um dort vor Ort konkrete Problemlagen und Lösungsansätze zu erkunden und zu diskutieren. Die Exkursionen, die verschiedene Aspekte transformativer Praxis hervorhoben, wurden im Vorfeld der Konferenz von Studierenden im Rahmen eines Projektseminars inhaltlich erarbeitet.
Der Tag rundete mit einem weiteren Höhepunkt ab: Die MLU und die Stadt Halle erneuerten ihren Kooperationsvertrag im Rahmen eines Podiumsgesprächs zwischen der Rektorin Claudia Becker, dem Bürgermeister Egbert Geier und Philipp Spiegel, Programmmanager beim Stifterverband. Der Stifterverband steuerte mit dem Programm „Transformationslabor Hochschule“ 25.000 Euro für die vertragliche Ausarbeitung der Kooperation im Rahmen eines Workshops bei. Mit diesem Ergebnis sei Halle bundesweit auch ein herausragendes Best-Practice-Beispiel, so Spiegel.
Auch der dritte Konferenztag setzte sich inhaltlich mit der Frage auseinander, wie verschiedene Akteure den Strukturwandel gestalten können. In seinem einführenden Grußwort betonte Dr. Jürgen Ude, Staatsekretär für Strukturwandel und Großansiedlungen in der Staatskanzlei des Landes Sachsen-Anhalt, dass Investitionen in Wissenschaft und die regionalen Hochschulen nicht nur eine zentrale Rolle bei der Bewältigung der gegenwärtigen Transformation einnehmen, sondern die Region auch für die zukünftigen Herausforderungen gut aufstellen. Bereits entstandene Projekte wie die Ansiedlung des CTC seien eine einmalige Chance und können die Region insgesamt befruchten.
Anknüpfend daran, wurden in der zweiten Runde der parallel stattfindenden Innovationslabore mögliche Transformations- und Entwicklungspfade beleuchtet, sich über Zukunftsziele ausgetauscht und bereits bestehende Aushandlungsprozesse im Strukturwandel untersucht. Zudem fokussierte ein Innovationslabor die Frage nach der Bedeutsamkeit von regionalen und internationalen Netzwerken für den Wissenstransfer im Strukturwandel.
Die abschließende Zusammenfassung der Innovationslabore wurde spielerisch aufgezogen: Anhand von 3 ausgewählten Graphiken des Graphic Recording, die das jeweilige Innovationslabor repräsentierten, fassten Prof. Dr. Jonathan Everts und zwei seiner Kolleg:innen vom HALIS, Mareike Pampus und Felix Kolb, die Ergebnisse der Sessions zusammen und sorgten dabei für einige Lacher. So fand nach drei inhalts- und ereignisreichen Tagen die Konferenz einen erfolgreichen Abschluss.
Weitere inhaltliche Einblicke in die Tagung wird ein Konferenzband liefern, welcher voraussichtlich im Herbst 2024 erscheinen wird. Darüber hinaus finden Interessierte eine Übersicht über das Graphic Recording unter folgendem Link: https://www.picdrop.com/graphicrecording.cool/A9UwoBDprB.