Exkursion: „Post Industrial places“

Auf den Spuren der Kohle - Das Institut für Strukturwandel und Nachhaltigkeit (Halis) auf Exkursion im mitteldeutschen Revier.

Gemeinsam mit Kolleg:innen aus der Ethnologie und der Humangeographie der MLU besuchten Vertreter:innen des Instituts am Freitag den 9. Juli verschiedene Orte im Burgenlandkreis in Sachsen-Anhalt. Im Zuge der Tagesexkursion konnten spannende Gespräche mit Akteur:innen aus Politik, Verwaltung sowie Immobilien- und Kreativwirtschaft geführt werden, die tiefgreifende und vielfältige Einblicke in eine Region im Wandel zuließen. Deutlich wurde dabei insbesondere die Komplexität des Strukturwandels.

Unterwegs vor Ort

Die Tagesanlagen der Mitteldeutschen Braunkohlegesellschaft mbH (Mibrag) liegen am Rande des Abbaufeldes Schwerzau. Bei leichtem Nieselregen und tiefhängenden, grauen Wolken lädt der Parkplatz nicht lange zum Verweilen ein. Das Besucher:innenfahrzeug steht schon bereit, gleich kann es losgehen.

Dort, wo einst die Braunkohlewälder standen, klafft heute die große Tagebauhalde Schwerzau, der südliche Abschnitt des Tagebaus Profen. „Das ist mein Reich – Gemarkung Reuden“ scherzt der Besucher:innenbetreuer der Mibrag, Herr Stahl, und zeigt in Richtung Abbaufeld. Der Ortsbürgermeister von Reuden lebt seit 67 Jahren hier „am Rande des Tagebaus“ und kennt die Belange der Anwohner:innenschaft aus erster Hand. Seit 2004 werde hier gebaggert und so seien weitreichende landwirtschaftliche Gemarkungen seines Dorfes dem Tagebau zum Opfer gefallen. Der gängige Vergleich mit einer Mondlandschaft trifft auf dieses Abbaufeld passend zu. Bis an den Horizont verteilt, stehen große Abbaugeräte in trichterartigen Senken. Dieser Teilbereich weise - in geologischer Hinsicht - besonders komplizierte Strukturen auf, betont der Besucher:innenbetreuer und führt die Entstehungsprozesse der örtlichen Braunkohle weiter aus.

Infotafel am Aussichtspunkt Abbaufeld Schwerzau (Foto: F. Kolb)

In sozioökonomischer Sicht stelle die anstehende Auskohlung des Tagebaus große Herausforderungen für ihn als Ortsbürgermeister dar. Neben dem Verlust von weiteren Industriearbeitsplätzen befürchte er, dass die Mitteldeutsche Braunkohlengesellschaft mbH (MIBRAG) den Rückbau und die Rekultivierung der Tagebauflächen nicht schaffen werde. Zwar befinde man sich stetig in laufender Renaturierung durch Schaffung von sogenannten Ersatzhabitaten, jedoch seien die Rücklagen nicht vorhanden, um die Pläne der Verfüllung und Renaturierung in Zukunft vollständig umzusetzen. Für die örtlichen Agrarbetriebe stellen die rekultivierten Flächen nur unzureichenden Ersatz für die ehemals sehr fruchtbaren Böden dar. Dennoch sei Ackerbau auch wieder großflächig möglich, erläutert Herr Stahl und deutet nach links und rechts aus den Fenstern des Besucher:innenbusses, der sich auf einer asphaltierten Straße zwischen Weizen- und Maisfeldern weiter ins Innere des Tagebaus bewegt. Nach der Befahrung der Abbaufelder folgt ein Besuch in der Schwerzauer Siedlung in Draschwitz, benannt nach dem ehemaligen Ort Schwerzau, der 1994 umgesiedelt wurde. Etwa 400m vom Tagebaurand entfernt steht seitdem entlang der Bundesstraße 2 Richtung Zeitz die neuerrichtete Siedlung. Von den ehemals 34 Einwohner:innen leben heute nur noch wenige hier, die meisten seien bereits verstorben, erklärt Stahl. 2019 habe es ein 25-jähriges Jubiläumsfest gegeben.

Schaufelbagger im Tagebau Profen (Foto: F. Kolb)

Der Regen prasselt unermüdlich, die Reise geht weiter nach Zeitz. Auf den Spuren der postindustriellen Orte der einst umfänglichen Braunkohleindustrie der Region darf ein Besuch in der original erhaltenen Brikettfabrik „Hermannschacht“ nicht ausbleiben. Am Stadtrand inmitten eines Industriegebiets zwischen den Betriebsanlagen von Südzucker und CropEnergies Bioethanol gelegen, wirkt der rote Klinkerbau wie ein Fremdkörper - ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Der Gebäudekomplex aus Backstein und Stahlträgern steht bereits seit 1961 unter Denkmalschutz, jedoch habe er bis zur Wiedervereinigung stark unter der illegalen Entwendung von Maschinen und Produktionsteilen gelitten, so die Museumsführerin. Heute beherbergt die Brikettfabrik neben dem Museum einen Neubau für Veranstaltungen sowie das „vierte Standesamt“ in der alten Schiede. Die massiven Gerätschaften, Kettenseilzüge und Brennöfen lassen nur im Ansatz vermuten, unter welchen Bedingungen die damalige Belegschaft arbeiten musste. Die Nähe zu den Tagebaugruben sowie der energiehungrigen Industrie in Zeitz und Umgebung machte die Brikettfabrik zum systemrelevanten Mittelpunkt der industriellen Produktion der Region. Heute sind Teile des Gebäudes marode und es tropft durchs Dach – eine Sanierung ist dringend notwendig. Dafür fehlten bisher die Gelder, die auch die Stadt Zeitz nicht aufbringen konnte.

Im Regen stehen - Brikettfabrik „Hermannschacht“ (Foto: F. Kolb)

Doch eine Förderung scheint nun endlich sichergestellt zu sein, berichtet wenig später Frau Plätzer in einem Restaurant im Zentrum der Stadt an der weißen Elster. Sie ist seit letztem Jahr als Sachbearbeiterin im Referat für wirtschaftliche Entwicklung der Stadt Zeitz tätig und insbesondere für die Koordinierung der Maßnahmen im Zuge des Strukturwandels verantwortlich. Welche Herausforderungen damit einhergingen, erläutert sie am Beispiel der Rahnestraße, die mit hohem Leerstand und Verfall in der Stadt seit Jahren für Diskussion sorgt. Viele Hauseigentümer:innen seien Investor:innen, die über eine Vielzahl an Immobilien in der Stadt verfügen würden, jedoch diese aus Spekulationszwecken nicht weiter entwickeln bzw. in Stand hielten, erläutert Plätzer. Folglich fehlten der Verwaltung die Handlungsspielräume, um eine geplante Stadtentwicklung voran zu treiben und eine attraktive Basis für neuen Wohnraum und Gewerbe zu schaffen. Daran seien auch Fördergelder aus Strukturwandelmitteln geknüpft, die so nicht abgerufen werden könnten. Entwicklungen hinsichtlich der Digitalisierung und Projekten des Kreativgewerbes sehe die Sachbearbeiterin als essentiell und fortschrittlich an und hoffe auf weiteren Zuwachs in der Branche. Dafür bedarf es jedoch noch an weiteren Standortfaktoren, wie beispielsweise die Anbindung an das S-Bahnnetz nach Leipzig und Halle sowie mehr junge, ausgebildete Menschen vor Ort. Letztere müsse man auch durch eine gezielte Förderung von Kleinprojekten in die Stadt locken und durch die enge Bindung sowie Kooperation mit dem Hochschulnetz der Region unterstützen, betont Plätzer. Ein Vorzeigeprojekt in diesem Sinne sei die Nudelfabrik, auch bekannt als „Alte Nudel“.

Blick auf den Innenhof der Alten Nudelfabrik (Foto: F. Kolb)

Das ehemalige Fabrikgebäude liegt jenseits der Weißen Elster nahe des Bahnhofs und beherbergt heute verschiedenste kooperative Projekte des gemeinsamen Wohnens und Arbeitens. Für Herrn Mahnke bietet das teilsanierte Gebäudeensemble vor allem eins: „Space“ für eine internationale Zielgruppe. Der Investor und Projektentwickler ist hier Eigentümer und hat bereits viel Erfahrung in der Kreativbranche gesammelt. Neben viel Fläche für internationale Künstler:innen und einem Areal für VR-Technologie erarbeiten diesen Sommer im Creative Lab verschiedene Start-Ups unter dem Slogan #Kohleideen innovative Projekte für den Strukturwandel in der Region. Es wird sich vernetzt, ausgetauscht und gemeinsam Lösungen für die anstehenden Herausforderungen von Überalterung, sozialer Teilhabe und Bildung erarbeitet.

Meet and greet im Co-working Space der Nudelfabrik (Foto: F. Kolb)

Die Gespräche am heutigen Tag haben vor allem eines gezeigt: Der Strukturwandel ist vielschichtig, komplex und real. Aber es gibt eine Vielzahl an Akteur:innen, die sich den zukünftigen Aufgaben zur sozialgerechten Transformation bereits mit innovativen Ideen und jeder Menge Engagement stellen. Für das Institut für Strukturwandel und Nachhaltigkeit gilt es nun diese Dynamiken nachzuzeichnen und deren Auswirkungen wissenschaftlich zu untersuchen. Außerdem soll eine Vernetzung mit und zwischen Praxispartner:innen forciert und auch bei zukünftigen Exkursionen gefördert werden.