Gesprächsreihe Struktur & Wandel: Ostdeutsche Boomstädte?

Ostdeutsche Strukturwandelstädte:
Boom oder doch nur […], ja was eigentlich?
Im Rahmen der der Gesprächsreihe “Struktur und Wandel” sprachen Ludger Gailing (Professor für Raumplanung, BTU Cottbus) und Jonathan Everts (Professor für Anthropogeographie, MLU Halle) am Beispiel der Städte Halle (Saale) und Cottbus darüber, welche Emotionen und Narrative sich um den Titel der ostdeutschen Boomstädte ranken und wie sich die Auf- und Umbrüche einordnen lassen.

Boom als kühne These oder Realität?

Dass Cottbus als “krass” und als “Boomtown” betitelt werde sei neu, betont Ludger Gailing. Vor fünf bis zehn Jahren sei das nicht denkbar gewesen. Nun treffe aber mit den Milliarden ein neues Aufbruchsnarrativ auf die Lausitz.
Was heißt hier eigentlich „Boom“? Jonathan Everts verglich die aktuelle Entwicklung mit den Urbanisierungsschüben vergangener Jahrhunderte und stellte fest: Wenn das ein Boom sein soll, dann maximal im Zeitlupentempo.
Doch es gab Widerspruch aus dem Publikum: Mark Lange vom Stadtmarketing Halle sprang ein: Halle hätte einen Sechser im Lotto gelandet, ohne überhaupt gespielt zu haben. Vor 25 Jahren sei man es gewohnt gewesen, dass im besten Fall nur alles stillstand statt zu verschwinden – jetzt passiere tatsächlich was.
Aber was bedeutet das regional? Everts gab zu bedenken, dass boomende Städte ihren Zuzug nicht aus bereits überlasteten Metropolregionen generierten. Wanderungstrends zeigten: Die Großstädte ziehen an, das negative Wanderungssaldo aber verbliebe auf dem Konto der ländlichen Regionen, die weiter um ihre Zukunft ringen würden. Besonders im Licht des wenig ausgeprägten Zusammenhalts Halles mit seinem Hinterland sei das ein schwieriger Prozess, so der Humangeograph.

Auch die finanzielle Seite wurde immer wieder als Referenz herangezogen, schließlich stellt der Bund mit 40 Milliarden Euro bis 2038 eine große Menge Geld bereit, die in den Wandel fließen sollen.
Im Vergleich der beiden Standorte wurde klar: regional und lokal schafft die Förderung noch einmal völlig unterschiedliche Ausgangssituationen. Während die Summen in der Lausitz ermöglichen, das Narrativ mit einer “Goldgräberstimmung” zu unterfüttern, so Everts, könne sich Halle das mit einem Bruchteil der Gelder noch nicht leisten. 

Ludger Gailing machte klar: Ja, wir dürfen über Boom sprechen, die großen Projekte sprächen für sich. Eine solche pro Kopf Förderung in eine ländlich geprägte Industrieregion sei einmalig.

 Aber Strukturwandel ist mehr als neue Jobs

Jetzt ginge es um Festivalisierung und weiche Standortfaktoren, damit Menschen nicht nur kommen, sondern bleiben wollen, betont der Raumplaner aus Cottbus. Doch wer wird dabei mitgedacht? Anerkennungsgerechtigkeit sei hier zentral, also auch bereits Zugezogene, Frauen, Junge und Ältere als Gestalter*innen des Wandels anzuerkennen. Soziale Themen wie Demokratie- und Antirassismusförderung? In Cottbus sei für diese Bereiche der Begleitforschung bisher kaum ein Posten im Milliarden-Topf vorgesehen, so Gailing.

Jonathan Everts sieht in den hohen Fördersummen langfristig eine Herausforderung,
da es Ostdeutschland an einer „Erbengeneration“ mangele und Reichtum knapp sei.
Die Großprojekte seien deshalb auch riskant, wenn deren zukünftige Finanzierung
weiterhin von Bundesmitteln abhänge und das Land keine zusätzlichen Gelder bereitstelle.

Nichtsdestotrotz: Projekte wie „Revierpionier“ und Werkstattformate zeigten, dass
es möglich ist, mit kleinen Förderungen große Effekte zu erzielen. Und während
Sachsen stark auf wenige Prestigeprojekte setze, betone man in Sachsen-Anhalt
wie in Brandenburg die Notwendigkeit kleiner, regionaler und partizipatorischer
Kooperationen, merkte Everts an.

Die Pflicht ist getan, jetzt kommt die Kür.

Strukturwandel heißt also nicht nur große Summen zu verteilen, sondern sich langfristig und klug zu vernetzen und dafür Sorge zu tragen, dass die Menschen auch in Zukunft kommen und bleiben wollen.

Bleibt nur die Frage: wer macht mit, damit der Boom tatsächlich und nachhaltig stattfinden kann?

 

Das Gespräch moderierte Mareike Pampus.