Anlässig des 60-jährigen Jubiläums von Halle-Neustadt organisierte die Agentur für Aufbruch am 12. und 13. September, im Rahmen des Wohnkomplex-Festival, ein Symposium mit vielfältigen Podiumsgesprächen, sogenannten Runden Tischen und einer Stadtführung. Die Gespräche widmeten sich der Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Stadtviertels. Im transdisziplinären Austausch zu Themen wie der Wendezeit, Identitätsfragen, Denkmalschutz und Stadtplanung wurden auch individuelle Erfahrungen der Referent*innen und des Publikums einbezogen. Die Bauverein Halle & Leuna eG, sowie das Prisma Cinema im Neustadt Zentrum boten die passenden Räumlichkeiten dafür.
Die Stadtführung mit dem Titel “‚Brasilia‘ der DDR – planungshistorische Erkundungen im Rundgang durch die ‚Altstadt‘ von Halle-Neustadt” wurde von Prof. Harald Kegler geleitet, der bis 2023 an der Universität Kassel zu Themen der Planungsgeschichte und nachhaltigen Raumplanung forschte. Während der Führung durch die Straßen und Wohnkomplexe wurde die städtebaulichen Dimensionen von Halle-Neustadt ersichtlich und Parallelen zur Planungsstadt Brasília in Brasilien gezogen. Eindrücklich zeigte sich der statische, musterstädtische Aufbau der ehemalig eigenständigen Trabantenstadt, mit ihren zahlreichen Wohnkomplexen mit eigenen Nahversorgungszentren, Parkanlagen und Bildungseinrichtungen. Auffällig war insbesondere die offene und grüne Bauweise.
Das Podium “Brüchige Kontinuitäten – Ostdeutsche Perspektiven auf Wandel und Erneuerung”, moderiert von Daniel Herrmann, widmete sich Themen sozialer und kultureller Identitäten, Erinnerungskultur sowie den aktuellen Diskursen in Ostdeutschland. Die geladenen Sprecher*innen brachten sowohl wissenschaftliche als auch praktische Perspektiven ein. Ein erster Beitrag von Dr. Anne Pfautsch, Kunsthistorikerin und Kuratorin, thematisierte die fotografische Agentur Ostkreuz, die 1990 gegründet wurde. Bis heute verfolgt die Agentur das Leitbild des Kollektivismus, welches eine gemeinschaftliche Arbeitsweise und ein solidarisches Geschäftsmodell umfasst. Das diverse Team beschäftigt sich unter anderem mit den unterschiedlichen Lebensrealitäten während und nach der Wende. Andrea Wieloch, Leiterin des Museums Utopie und Alltag in Eisenhüttenstadt, fragte in ihrem Beitrag nach der Bedeutung des Museums für die Region. Das Museum verfügt über einen bedeutenden Bestand von etwa 170.000 Alltagsgegenstände aus der DDR. Elske Rosenfeld, Künstlerin, Autorin und Kulturarbeiterin, berichtete über ihre multimedialen Arbeiten, die sich ebenfalls mit ostdeutschen Themen befassen. Anlässlich des 60-jährigen Jubiläums von Halle-Neustadt konzipierte sie das Heft Statements für die Zukunft, das Standpunkte verschiedener Arbeitsgruppen und Kollektive des Viertels aus den Jahren 1989/90 darlegt. Dr. Stephan Pabst von der MLU beschäftigt sich mit Literatur und Fragen der Identität in der damaligen DDR und im heutigen Ostdeutschland. Im Rahmen der Veranstaltung warf Stephan Papst die Frage auf, ob die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland lediglich materiell bedingt seien, oder ob es signifikante Unterschiede in der Identität gäbe.
Gemeinsam wurde darüber diskutiert, wie die Zukunft von Institutionen wie dem Ostkreuz und dem Museum Utopie und Alltag in den kommenden Jahrzehnten aussehen und welche Rolle sie in Bezug auf Identitätsfragen spielen könnten. Thematisiert wurde, dass die Rolle der Ostidentität bei jüngeren Generationen an Bedeutung gewinne und heute offener nach außen getragen würde, als noch vor einigen Jahren. Social Media Inhalte hätten daran einen sichtlichen Anteil zu beigetragen. Zudem werde deutlich, dass viele westdeutschen Politiker*innen, die in Ostdeutschland ein aktives Mandat ausüben, die Perspektiven der Bevölkerung nicht ausreichend nachvollziehen könnten.
Ein weiteres Podium mit dem Titel “Private Öffentlichkeit, öffentliche Privatheit”, moderiert von Mareike Pampus, widmete sich Themen von Segregation, Stadtumbau und -entwicklung, sowie ebenfalls politischen Parallelen in der Gegenwart. Dr. Matthias Bernt vom Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung in Erkner eröffnete mit einem Beitrag zum Thema Segregation und erläuterte, wie verschiedene Faktoren wie Asylgesetze, Regelungen zum Bürger*innengeld, Stadtumbauprogramme und Privatisierung im Allgemeinen dazu führen, dass in Stadtteilen eine bestimmte sozioökonomische Struktur entstehen.
Dr. Jakob Hartl vom Forschungsinstitut gesellschaftlicher Zusammenhalt (MLU) ergänzte in seinem Beitrag, wie gesellschaftlicher Zusammenhalt gemessen werden kann, und stellte die Frage, ob dieser Zusammenhalt notwendig sei, um das politisch-demokratische Engagement und die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Markus Sattler vom Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig brachte stadtplanerische Perspektiven aus Osteuropa, insbesondere Georgien, in die Diskussion ein. Dabei betonte er, dass in Krisenzeiten der Stadtentwicklung und in Bezug auf wachsende Segregation es durchaus sinnvoll wäre, auch osteuropäische Konzepte zu betrachten. Lukas Schwemmbauer von der Universität Leipzig ergänzte die Diskussion mit einem Beitrag zu Redebeiträgen aus dem Bundes- und Landtag, die Fragen zur ostdeutschen Identität thematisieren.
Mit historischen Rückbezügen und Perspektiven auf kulturelle und identitäre Transformationsdynamiken, begegnete das Symposion den aktuellen stadtplanerischen Herausforderungen in Halle-Neustadt und wagte damit auch einen Blick nach vorn.